Ärzte Zeitung, 22.01.2016 07:27
Ärztin mit Asperger
"Ich war abseits, fühlte mich einsam, das tat weh."
Die Asperger-Diagnose erhielt sie zum Studienabschluss: Heute
arbeitet Dr. Christine Preißmann trotz ihrer Krankheit in einer Klinik -
ein Alltag, der ihr Halt gibt.
Von Pete Smith

Ärztin und Therapeutin - trotz Asperger-Syndrom: Dr. Christine Preißmann.
© Privat
NEU-ISENBURG. Die ärztliche
Fortbildungsveranstaltung fand in einem verschlafenen Nest statt. Zu
Beginn des Kurses erklärte der Leiter, dass hier um 18 Uhr die
Bürgersteige hochgeklappt würden. Christine Preißmann erschrak.
Eigentlich hatte sie am Abend noch einen Spaziergang geplant. Doch
stattdessen stand sie frühabends am Fenster ihres Hotels und starrte
gespannt aufs Trottoir. Nichts geschah.
Ihre Angst, erzählt Dr. Christine Preißmann, sei damals sehr real
gewesen. An der Rezeption ihres Hotels habe sie sogar nachgefragt, wie
lange man noch problemlos durch die Straßen laufen könne. "Ich glaube,
in solchen Momenten denken die Menschen, ich wollte sie veräppeln."
Dabei liegt der Dieburger Ärztin nichts ferner. Tatsächlich nimmt sie ihre Gesprächspartner lediglich beim Wort.
Eine typische Eigenart ihrer Entwicklungsstörung, für die es in der
Medizin seit den 1980er Jahren den Begriff Asperger-Syndrom gibt.
Ob es
sich bei der milderen Autismus-Variante um eine Krankheit oder eine
spezielle Art der Informationsverarbeitung handelt, ist in der
Wissenschaft umstritten. Christine Preißmann nennt es eine Behinderung.
"Ich habe viele gute Momente und bin sehr oft glücklich, aber ich
merke immer wieder auch Schwierigkeiten im Alltag, Einsamkeit und
Kontaktschwierigkeiten, Probleme mit Veränderungen, wörtliches
Sprachverständnis, mangelnde Flexibilität."
Sie hat auch einen Schwerbehindertenausweis. "Wenn er hilfreich sein
könnte, stecke ich ihn ein, ansonsten liegt er in der Schublade."
Spezialinteressen statt Trends
Christine Preißmann wurde 1970 in Dieburg geboren. Dass sie anders
war als ihre Mitschülerinnen, merkte sie früh. "Die anderen Mädchen
unterhielten sich über Mode, Musik oder Menstruationsbeschwerden und
darüber, welcher Junge besonders süß war", erzählt sie.
"Damit konnte ich nichts anfangen." Sie interessierte sich eher für Weihnachtsmärkte, Pläne aller Art und große Flughäfen.
Solche Spezialinteressen sind für Menschen mit Asperger typisch,
ebenso das starre Festhalten an Gewohnheiten. In Fächern wie Mathematik
und Geografie, in denen es vor allem ums Lernen geht, war sie stark,
während sie beim Analysieren von Literatur versagte.
Als abschreckendes Beispiel musste sie ihre Aufsätze vorlesen und
wurde von ihren Mitschülern ausgelacht. Lehrer fühlten sich von ihr
provoziert, sie galt als faul und ungezogen. "Ich war abseits, fühlte
mich einsam, das tat weh."
Dass sich Preißmann nach dem Abitur für ein Medizinstudium entschied,
hing auch mit ihrem Anderssein zusammen, aber das sollte sie erst
später erkennen.
Als Kind und Jugendliche litt sie unter Knieschmerzen. Heute weiß
sie, dass jene psychosomatisch bedingt waren. Aufgrund dessen durfte sie
die Pausen im Klassenzimmer verbringen, musste nicht auf den Schulhof,
was für sie Stress und Chaos bedeutete.
Vom Sportunterricht war sie befreit. "Dort wurde ich zuvor oft
belächelt, da ich motorisch ungeschickt war." Auch an Klassenfahrten und
Ausflügen, die die Routine durchbrachen, musste sie nicht teilnehmen.
Diagnose zum Studienabschluss
Aufgrund ihrer Beschwerden war sie oft bei Ärzten, was ihren Wunsch weckte, selbst einmal Medizin zu studieren.
Ihren Studienplatz bekam sie schließlich nicht über die Abiturnote,
sondern über die Bestenquote im Medizintest. "Für diese Möglichkeit bin
ich heute noch sehr dankbar."
Von 1990 bis 1997 studierte Christine Preißmann in Frankfurt am Main
Humanmedizin. Die Diagnose Asperger erhielt sie mit Abschluss ihres
Studiums: im Alter von 27 Jahren. "Das war eine große Erleichterung",
erinnert sie sich, "eine Befreiung, dass es einen Namen dafür gab und
nicht alles auf bösen Willen oder auf Faulheit zurückzuführen war."
Nach ihrer Promotion 1998 absolvierte die Ärztin eine
Zusatzausbildung zur Psychotherapeutin. Heute arbeitet sie in Teilzeit
im Suchtbereich einer psychiatrischen Klinik. "Der geplante und
strukturierte Tagesablauf auf der Station kommt mir sehr entgegen",
erklärt sie.
Das Neue und Ungewohnte bereite ihr zwar noch immer Schwierigkeiten,
aber mit Hilfe einer Ergotherapeutin könne sie ihren Alltag inzwischen
gut bewältigen. Auch in ihrem Beruf hat sie Strategien entwickelt, ihre
Beeinträchtigung zu kompensieren.
Da sie sich, anders als ihre Kollegen, nicht auf den Anschein
verlassen kann, ob ein Patient traurig oder wütend ist, fragt sie direkt
nach dem Befinden und gelangt so auf geradem Weg zum Ziel.
Aufgrund ihrer speziellen Wahrnehmung
erkennt sie Details, die anderen nicht auffallen. Umgekehrt hat sie
Probleme, Zusammenhänge zu erkennen und das große Ganze zu überblicken.
"Bis heute", sagt Christine Preißmann, "kann ich mir weder einen Film
ansehen noch einen Roman verstehen."
Neben ihrer therapeutischen Arbeit macht sich die Ärztin seit zehn Jahren für die Aufklärung über Autismus und Asperger stark.
Sie hält Vorträge - für Betroffene und deren Familien ebenso wie für
Experten - und hat zudem mehrere Fachbücher veröffentlicht, etwa zum
Thema "Mädchen und Frauen mit Asperger" oder zur Psychotherapie und
Beratung von Betroffenen. In ihrem jüngsten Werk geht es um Resilienz.
Kraft für betroffene Mütter
Damit will Christine Preißmann vor allem die Mütter autistischer
Menschen stärken. "Bei aller Sorge um das Kind ist es wichtig, auch an
sich selbst zu denken, sich realistische Ziele zu setzen, Interessen neu
zu entdecken und sich etwas Gutes zu tun", sagt die Ärztin und
Therapeutin.
Dadurch stärkten Eltern ihre Widerstandskraft, was letztlich auch ihren Kindern zugutekomme.
Die eigenen Stärken gezielt einzusetzen, helfe auch ihr dabei, ihr
Leben zu bewältigen, sagt Dr. Christine Preißmann. "Mittlerweile gelingt
es mir im Gegensatz zu früher deutlich besser, für mich zu sorgen."
Die Arbeit in der Klinik mache sie glücklich. In ihrer Freizeit reist
sie gern und pflegt ihre Hobbys. "Auch die Öffentlichkeitsarbeit im
Bereich Autismus erfüllt mich sehr und gibt mir viel Kraft." Insgesamt
sei ihr Leben ruhiger geworden. "Es ist ein Leben, das zu mir passt."
Lesen Sie dazu auch:
In Unternehmen: Autismus als berufliche Qualifikation
Copyright © 1997-2016 by Springer Medizin Verlag GmbH